50 Jahre STIFTUNG WELTWEITE WISSENSCHAFT!
Text nach einer Rede von Prof. em. Peter Fischer-Appelt
zum 50. Jubiläum des Gästehauses, 12.06.2013
Die Herberge der Freundschaft
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Beim fünfzigjährigen Jubiläum der Stiftung Weltweite Wissenschaft und des Gästehauses der Universität Hamburg hier an der Rothenbaumchaussee möchte ich meine Reverenz zunächst der VolkswagenStiftung im Gedenken an deren ersten Generalsekretär Gotthard Gambke und der Alexander von Humboldt-Stiftung in Erinnerung an den langjährigen Generalsekretär Heinrich Pfeiffer erweisen. Es war die 1961 gegründete Stiftung Volkswagenwerk, die auf Anregung der Humboldt-Stiftung als erste Aktion ein Gästehausprogramm für die Universitäten auflegte. Sie half der Universität Hamburg, dieses stattliche Bürgerhaus zu erwerben. Doch ohne einen etwa gleich hohen Betrag an Spenden aus der Hamburger Wirtschaft, ohne Lottomittel, Eigenvermögen der Universität und ein Darlehen hätte das Haus nicht für einen Gesamtbetrag von 3,1 Mio. DM erworben und als Gästehaus hergerichtet werden können.
Weitaus mehr Mittel waren erforderlich, um das Haus in den vergangenen fünfzig Jahren zu erhalten und modernen Wohnbedürfnissen anzupassen. Dazu gehörte der riskante Schritt zur Aufnahme einer Grundschuld von 2,9 Mio. DM in der Mitte der achtziger Jahre. Ich weiß es zu schätzen, dass die Stiftung am Ende dieses Jahres die letzte Rate der Amortisation erstatten kann. So hat die vor dreißig Jahren entschiedene Kreditaufnahme einen glücklichen Ausgang genommen, der mich vor dem Schuldturm bewahrt.
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Das Gästehaus der Universität Hamburg ist mit seinen ursprünglich 38, heute 52 Wohneinheiten und seinem illustren Internationalen Begegnungszentrum eine der größten Residenzen dieser Art an deutschen Hochschulen. Ein solches Haus zu führen erfordert Verantwortungsbereitschaft, Weitblick, akademisches Gespür, solide Finanz- und fachkundige Bauberatung sowie eine professionelle Geschäftsführung und ein hervorragendes Serviceteam. Daran hat es nun nie gefehlt, aber die deutliche Steigerung über Jahrzehnte ist doch bemerkenswert.
Man wird es bei einer ehrenamtlichen Tätigkeit kaum für möglich halten, dass die Leitung der Stiftung in der langen Periode eines halben Jahrhunderts in den Händen von nur zwei Persönlichkeiten lag. In den ersten fünfzehn Jahren führte den Vorsitz der Kieferchirurg Karl Schuchardt, dessen kraftvolle und humorvolle Erscheinung ich in bester Erinnerung habe. Seit 1978, also seit 35 Jahren, waltet dieses Amtes mit beeindruckender Umsicht und Hingabe der Pharmazeut Jobst Mielck.
Es ist deshalb für mich eine wahre Freude, Ihnen lieber Herr Mielck, heute nicht nur zu einem runden Jubiläum des Gästehauses der Universität gratulieren zu dürfen, sondern ganz persönlich auch zu der langjährigen, großartigen Leistung in der ebenso effektiven wie geräuschlosen Leitung des Hauses und ihres betrieblichen Rechtsträgers, der Stiftung Weltweite Wissenschaft. Es kommt ja hinzu, dass Sie etwa drei Jahrzehnte lang im Vorstand des Studentenwerks Hamburg, seit 2000 auch als dessen Vorsitzender, Verantwortung für die sozialen Belange aller Hamburger Studierenden getragen haben und mit der immer schwierigen Unternehmensführung zwischen sozialen Ansprüchen und wirtschaftlichen Engpässen bestens vertraut sind. Welch ein Engagement, welch eine Zuwendung und Treue zur Universität! Von Kurt Heyns über Wolfgang Walter bis zu Ihnen und José Alfons Clement Broekaert, auf einer anderen Linie von Hansjörg Sinn über Fritz Thieme bis zu Reinhard Kramolowsky und Peter Burger hat die Hamburger Chemie immer wieder Persönlichkeiten hervorgebracht, die der Selbstverwaltung Rang und Kraft verliehen haben. Einfach vorbildlich!
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Das Gästehaus ist seiner Bestimmung nach nicht nur eine akademische Herberge, sondern auch ein internationales Begegnungszentrum, das in Wechselwirkung mit dem Pulsschlag der Universität steht und stehen soll. Hierzu einige Reminiszenzen aus meiner Amtszeit als Präsident der Universität und Vorsitzender des Beirats der Stiftung Weltweite Wissenschaft (1970 - 1991).
Es fing schon damit an, dass meine erste Amtshandlung am Montag, dem 2. März 1970 um 15 Uhr c. t. hier in diesem Konferenzraum des Gästehauses stattfand. Es war die Leitung der ersten von vierhundert Sitzungen des Akademischen Senats. Mir scheint es so, als hätte man dem Newcomer das Schmuckkästchen an der Rothenbaumchaussee 34 gleich am ersten Tage seines Hierseins vorführen wollen.
Auf dieser Sitzung wurde die Einrichtung des Studiengangs Informatik beschlossen. Er war der erste Universitätsstudiengang dieser Art; er entstand nicht wie an Technischen Hochschulen aus der Elektrotechnik, sondern aus der Physik. Die Informatik wurde als neues Fach erfolgreich, weil sie auf mathematischer Grundlage Technik- und Geisteswissenschaften verbindet. Hier in Hamburg verstrebte man den logisch-kognitiven und den ethisch-kritischen Aspekt zu einem ganz besonderen Doppelschwerpunkt. Welch ein grandioses Vergnügen, zur Eröffnung des Studiengangs am 18. November 1971 hier in diesem Saal dem kecken berlinernden Schutzpatron dieser Verbindung Joseph Weizenbaum (1923 - 2008) vom MIT zu begegnen, dem Vater des Computer-Programms ELIZA, Meilensteins der „künstlichen Intelligenz“, einem „Ketzer der Informatik“, wie er sich selbst später bezeichnete, dem allerersten Wächter des Datenschutzes in der Zeit, da die Informationsverarbeitung ins Kraut zu schießen begann.
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Werfen wir nach der Informatik einen Blick auf die Geschichtswissenschaft. Unter den vielen Empfängen, die hier anlässlich von runden Geburtstagen stattfanden, habe ich einen in besonderer Erinnerung: den Versöhnungsgipfel zwischen Fritz Fischer und Egmont Zechlin am 6. März 1978.
Mit seinem 1961 erschienenen Werk „Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland (1914 - 1918)“ hatte Fritz Fischer (1908 - 1999) die wohl größte wissenschaftliche Kontroverse der Nachkriegszeit ausgelöst. Gegen die apologetischen Tendenzen der deutschen Forschungsdiskussion vertrat Fischer die These, die Reichsführung trüge im Bündnis mit Österreich-Ungarn durch ihr imperialistisches Weltmachtstreben „einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges“, weil sie es im Vertrauen auf die deutsche militärische Überlegenheit in der Julikrise auf einen Konflikt mit Russland und Frankreich ankommen habe lassen (97).
Dagegen wandten sich konservative Forscher wie Karl Dietrich Erdmann, Hans Herzfeld, Gerhard Ritter und Egmont Zechlin mit der Ansicht, das Deutsche Reich habe 1914 aus einem Gefühl der Defensive gehandelt und trage nicht die Hauptschuld am Ersten Weltkrieg. Egmont Zechlin (1896 - 1992), der noch am Ersten Weltkrieg teilgenommen und die linke Hand verloren hatte, kritisierte insonderheit Fischers Methodik, sah das Reich auf den übermächtigen Gegner England fokussiert und sprach von einem „Ring der Einkreisung“, für dessen Aufbrechen die Reichsleitung das Risiko des Krieges bewusst akzeptiert habe; hier lag ein Berührungspunkt mit Fischers These.
Die beiden Kontrahenten, die mehr als zwanzig Jahre lang Wand an Wand im IX. Stock des Philosophenturms residierten, trafen nach langer Entfernung vor großem Publikum der historischen Zunft beim 70. Geburtstag Fritz Fischers aufeinander und versöhnten sich nach einer intuitiv irenisch gehaltenen Rede ihres Präsidenten. Die Fischer-Kontroverse war zweifellos, um Arnold Sywottek zu zitieren, „ein Beitrag zur Entwicklung des politisch-historischen Bewusstseins in der Bundesrepublik“ (Deutschland in der Weltpolitik, 19).
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Hieran lässt sich nahtlos die Entstehung des Programms „Öffentliche Wissenschaft“ knüpfen. Die damals begründete Reihe „Gespräche beim Universitätspräsidenten“ repräsentierte schon für sich das Thema öffentliche Wissenschaft. Zwanzig Diskurse mit jeweils einem eingeladenen Gast fanden hier im Saal von 1979 bis 1989 statt. Aus dem ersten Gespräch mit dem Wissenschaftsredakteur des Norddeutschen Rundfunks Wolfgang Rieger am 17. November 1979 resultierte die Idee zur Wiedererrichtung des Allgemeinen Vorlesungswesens, das vor der Gründung der Universität Tausende von Bürgern anzog und seit dreißig Jahren mit zwanzig bis dreißig Reihen pro Semester wieder eine einzige Erfolgsgeschichte ist.
Es gehört dazu auch die Einrichtung der Gotthold Ephraim Lessing-Professur für öffentliche Wissenschaft, die nach der Entscheidung des Akademischen Senats vom 27. März 1980 mit Walter Jens besetzt werden sollte. Einige missgestimmte Kritiker aus dem professoralen Lehrkörper ließen es Walter Jens indes geraten erscheinen, die Geborgenheit seiner Tübinger Wahlheimat nicht mir der rauen Zugluft seiner Vaterstadt Hamburg zu vertauschen, als hätte er in der Tiefe sein späteres langjähriges Demenzschicksal vorausgeahnt. Ich bewahre dem liebenswerten Menschen und streitbaren Geist ein herzliches Gedenken. Walter Jens starb vor drei Tagen, am 9. Juni, in seinem Haus in Tübingen.
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Einen Monat vor dieser Berufungsentscheidung, am 28. Februar 1980, hatte hier im Gästehaus ein besonderes Abendessen stattgefunden. Die Universität Hamburg war inoffizielle Gastgeberin des Wissenschaftlichen Forums der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, einer Konferenz, die keinen staatlichen Gastgeber akzeptierte.
Auf dem Spiel stand die Fortsetzung des KSZE-Prozesses bei schroff divergierenden Positionen zwischen Ost und West. Das Forum tagte im Congress Centrum wie im Konklave, vierzehn Tage vom 18. Februar bis zum gesetzten Fallbeil am 3. März. Es ging um das Ziel, in Konsequenz der Schlussakte von Helsinki die Grundrechte zu universaler Anwendung für alle Wissenschaftler in Ost und West zu bringen. Unvorhergesehen hingen über der Konferenz drei dunkle Wolken: der NATO-Doppelbeschluss, der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und die Verbannung Andrej D. Sacharows aus Moskau. Um das Beratungsklima vor dem gänzlichen Verfall zu bewahren, hatte die Universität bereits zwei Empfänge und die Familie des Präsidenten vier Privateinladungen für die insgesamt 320 anwesenden Gäste aus den 35 europäischen Nationen gegeben, zu denen auch die Vereinigten Staaten und Kanada, nicht indes Albanien gehörten.
Vor den abschließenden Beratungen der Konferenz hatte ich nun alle Delegationsleiter hierher in das Gästehaus zu einem festlichen Abendessen eingeladen, das diplomatischer Gepflogenheit entsprechend nach dem französischen Alphabet der Ländernamen gesetzt war. Nur durch diesen alphabetischen Kunstgriff konnte erreicht werden, dass der Leiter der US-amerikanischen Delegation, der Akademiepräsident und Biochemiker Philip Handler aus Washington, einmal um den Tisch herum genau gegenüber dem Leiter der sowjetischen Delegation, dem Herzspezialisten Nikolai Nikolajewitsch Blokhin aus Moskau, platziert war, ohne dass eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes stattfand. Doch die Verständigung war in etwa so kompliziert wie die Übersetzung des Wortes „appropriate“, das später in der gelingenden Abschlusserkärung vorkam. „Was soll das genau bedeuten“, fragte Blokhin seinen Kollegen und Antipoden Handler. Der sagte: „fair, just and reasonable“ und zeigte damit an, dass die gesuchte Pax Europaea im kulturellen Sprachkontext der Pax Americana wurzelt.
Übrigens ist das Viergängemenu der Gästehausleiterin Edith Gyphtakis erwähnenswert; es wurde von den Gästen aus dem Munde des spanischen Tagespräsidenten Enrique Laroque hoch gelobt: Gekochter Ostseelachs, Kräutersauce, Toast und Butter; Klare Ochsenschwanzsuppe mit Blätterteigstangen; Gespicktes Rinderfilet mit Sahnesauce, Kaiserschoten, Prinzessbohnen und Pariser Karotten mit Schwenkkartoffeln; Zitronencreme; Mocca. Das Gästehaus zur entscheidenden Stunde at its best! Und: Das Wissenschaftliche Forum beschloss mit allseitiger Zustimmung die Durchsetzung von „human rights and fundamental freedoms at all levels“ - für jeden einzelnen Wissenschaftler.
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In vielen Episoden wurde das Gästehaus zum Kaleidoskop des Lebens der Universität. Es gab jedes Semester Empfänge für die neu immatrikulierten ausländischen Studierenden, einmal im Jahr für die Gaststudierenden der amerikanischen Junior Year Abroad Programme und ihre Direktoren; Empfänge für die neu berufenen Professorinnen und Professoren, denen ihre Vereidigung zusammen mit den anderen neu ernannten Beamten vorausging, für Mediziner im Erikahaus im Universitäts-Krankenhaus Eppendorf. Diese Ereignisse blieben manchem in langer Erinnerung, wie ich noch Jahrzehnte später hörte. Es gab Empfänge aus Anlass von Geburtstagen, Emeritierungen, Begräbnissen und Gedenkfeiern, Empfänge für die Gäste von Tagungen, Symposien und Kongressen, für die Teilnehmer von Sitzungen nationaler und internationaler Gremien.
Das Gästehaus diente in den fünf Jahrzehnten seiner Existenz immer neu der internationalen Begegnung mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus aller Welt. Darunter waren Zusammenkünfte mit den im Hause lebenden Gästen, mit den an der Universität tätigen Gastprofessoren, vor allem mit den Kooperationspartnern der vielen internationalen Partnerschaften, welche die Universität in Ost und West, Nord und Süd seit langem unterhält und stetig ausbaute. Unvergesslich ist mir die Unterzeichnung des erweiterten Austauschprogramms mit dem „delightful“ Smith College am 16. März 1979 zu der die erste Präsidentin Jill Ker Convay die Universität besuchte. Ich hebe dies hervor, weil diese Verbindung bereits 1927 in der Zeit des Delaware- Konsortiums angebahnt wurde und für beide Institutionen stets eine Herzensangelegenheit war.
Es gab dann und wann auch Abendeinladungen zum Dinner, manchmal für bis zu 38 Personen wie beim 70. Geburtstag des Ehrensenators Kurt Hartwig Siemers. „Ist der Flamingo ein Storch oder eine Ente?“ Bei dieser Rede lief er zu großer Form auf und schilderte sein abenteuerliches Leben mit Kunst und Wissenschaft. Überhaupt fand jedes halbe Jahr ein Essen mit den Ehrensenatoren statt, bei denen Alfred C. Toepfer (1894 - 1993), der älteste unter ihnen, und Herbert Weichmann (1896 - 1983), der dominierende Altbürgermeister, spontan Reden hielten.
Es war eine Zeit des langen Aufbruchs, in der die Universität eine starke Bindung ihrer Mitglieder und vieler Bürger an ihren Zweck, an ihren kritisch gewordenen Geist, an das Werk ihrer vielfältig gewordenen Aufgaben gewann. Das Gästehaus war in dieser Zeit, in der viele Auseinandersetzungen die Gesellschaft innerhalb und außerhalb der Hochschulen durchzogen, der Ruhepunkt der Universität.